darktaxa-project: interview with Simon Lehner, 3-2023

Interview: Simon Lehner/ Michael Reisch


MR ↱ Du benutzt wie selbstverständlich eine große Bandbreite der neuen, fotografiebasierten digitalen Tools. Ist das für dich als jüngeren Künstler eine Selbstverständlichkeit?

SL ↲ Es ist vielmehr eine Reaktion auf den Wandel in der Fotografie und unseren kollektiven Umgang mit Bildern. Ich ver­wende diese Tools zielgenau, sie dienen mehrheitlich dem Konzept der Arbeit und wurden über die letzten Jahre Schritt für Schritt in meine Prozesse eingeführt, um eine Verkettung von kognitiven Simulatio­nen zu kreieren.

MR ↱ Deine Bilder der The mind is a voice, the voice is blind­-Werkgruppe haben autobiographische Züge und verhan­deln Themen wie familiäre Beziehun­gen und Missbrauch. Wie bist du zu deiner Entscheidung gekommen, an diese hochpersönliche und intime, sehr menschliche Thematik mit hoch­technologischen, „kalten“ digitalen Tools heranzugehen?

SL ↲ Prinzipiell entspringen meine  Arbeiten einem psychologischen Kern, anhand dessen ich Aspekte menschlicher Emotion durch fotografische Beobachtung untersuche. Es war wichtig, den Prozess zu spiegeln, wie das Unterbewusstsein Erin­nerungen verarbeitet, sowie eine Parallele zur kollektiven Verarbeitung zu bilden — Wie das Individuum und die Gesellschaft mit Bildern umgeht, wächst durch die Technik, Selektion und Kuration auf allen Plattformen mehr und mehr auf ein Niveau zusammen. Ich sehe keine Kälte in diesen Tools — dadurch, dass sie sich immer näher an uns anpassen und menschliche Prozesse imitieren, sind wir schon lange in einem Graubereich angelangt, der menschlicher wird als das analoge Material je hätte sein können. Die Möglichkeit aus einem Set von vorhandenen Fotografien komplett neue Bilder zu formen, fälschen oder zu konstruieren, unterscheidet sich nicht mehr viel von unseren kognitiven Prozes­sen, wie wir uns aus Erinnerungen, Vor­stellungen bauen.

MR ↱ Du arbeitest sehr stark mit dem Begriff der Erinnerung, dabei gehst du von deinem Familienfundus an fotografischen Bildern und Videos aus, von einem Erinnerungsarchiv, das Andere, deine Eltern damals, angelegt haben. Wenn du mit diesen Bildern arbeitest, wie verhalten diese sich zu deinen eigenen, „echten“ Erinnerungen und emotionalen Erfahrungen? Geht es dir auch um eine Wiederaneignung der medialen wie inhaltlich­emotionalen Deutungshoheit?

SL ↲ Die Integration des persönlichen Fotoarchivs in meiner Arbeit konstruiert ein Werk aus der Erinnerung. Es entwickeln sich „Echochambers“ — Daten, die wieder­ holt aus denselben Archiv­bildern extrahiert werden, geben die Möglichkeit, neue Objekte, Figuren oder Umgebungen im digitalen Raum und damit Formen zu schaffen und bilden eine Parallele zu kognitiven Vorstellungs­  und Erinnerungsmustern. Dieser Umgang mit dem persönlichen Material ist natürlich nicht ausgeschlossen von Emotionen, aber ich sehe meine persönliche Geschichte mehr als Korpus, von dem aus ich arbeite und daraus die Themen in eine neue Ebene, eine gesellschaftliche Ebene heben kann.

MR ↱ Du hast in diesem Zusammenhang in unserem Vorgespräch davon gespro­chen, dass Bilder unser Leben steu­ern und kontrollieren, sowohl auf individueller, ganz persönlicher Ebene, z.B. durch Familienfotoalben, als auch auf kollektiver Ebene durch die „Bilderflut“ der Social Media, etc. Geht es dir auch darum, den normativen und autoritären Charakter der Fotografie in dieser Hinsicht zu dekonstruieren, zu brechen?

SL ↲ Wir haben uns ein kollektives Daten­trauma gebildet — ein System, das mit Bildern genauso umgeht wie unsere menta­len Prozesse bei traumatischen Episoden. Ich denke, dass die Fotografie uns in Zukunft mehr schaden wird als helfen — bei jeder US-Präsidentschaftswahl werden neue Methoden entwickelt, die darauf abzielen unterschwellig mit Bild und Videomaterial etwaige Präferenzen zu lenken. Konstanter passiert es nur in der Werbeindustrie. Das Medium wird zwar noch länger unsere Sprache bleiben, der Akt des Fotografierens wird aber sterben.  
Ich denke, wir müssen uns als Gesellschaft eine viel stärkere Awareness anlernen,  
um nicht Opfer der Bildinhalte zu werden.

MR ↱ Ich verstehe The mind is a voice, the voice is blind u.a. so, dass du in deinen Bildern den Fotoalben deiner Eltern dein eigenes Narrativ entgegenstellst. Gleichzeitig über­schreibst du auf medialer Ebene mit Hilfe der neuen zeitgenössischen Tools, Photogrammetrie und CGI, die traditionelle analoge Fotografie, das Medium der Elterngeneration.  Ist das für dich ein Akt der Ermäch­tigung in zweifacher Hinsicht?

SL ↲ Ich bin 1996 geboren und demnach kaum mehr auf natürliche Weise mit ana­logen Tools in Berührung gekommen. Ich verwende das Medium Fotografie als Building Block, aus dem die normalerweise zweidimensionale plane Fotografie in neue Formen transferiert wird. Das geht von bildbasierten Skulpturen und Gemälden über Arbeiten, die teilweise von einem Roboter gemalt wurden, bis hin zu 3D-Ani­mationsvideos — was sie alle vereint, ist ihr Ausgangsmaterial, das aus einem Pool an persönlichen und kollektiven Archiv­fotos stammt. Dadurch fungiere ich sozu­sagen als Puppet Master über die simu­lierte Erinnerung und habe die Kontrolle über die Fotografien, die den emotionalen Wert beinhalten — z.B. in der Videoarbeit  Archive Material Self Portrait (2005–2020), in der ich durch Face und Motion Capture, mein Alter Ego in Realzeit lenke.

MR ↱ Du hast in unserem Vorgespräch davon gesprochen, dass du in deinen Bildern den Glitch, den Fehler im System, als eine Metapher für menschliche Erinnerungsprozesse, menschliches Trauma verwendest, das finde ich hochinteressant, kannst du das hier noch einmal näher ausführen?

SL ↲ Jedes einzelne Element, das man an der Bildoberfläche sieht, wurde durch das persönliche und kollektive fotografische Archiv generiert. Es fließen bis zu 450 Archivbilder in verschiedene Software ein, um ein einzelnes Fragment aus den Archiv­fotos kreieren zu können. Mit diesen gewonnenen Teilen kann die Bildkonstella­tion im digitalen Raum von Grund auf neu gebaut werden und es ermöglicht mir, neue Szenen in 3D-Programmen zu erstellen — somit formt sich ein Prozess, der der  Malerei ähnelt, nur im digitalen Raum stattfindet.
Die Algorithmen der verschiedenen Soft­ware hinterlassen aber Lücken im Aus­gangsmaterial, sogenannte Memory gaps oder Erinnerungslücken der Software. Man sieht diese Artefakte an den Figuren, Objekten und Oberflächen, die nicht klar ausformuliert sind. Genau diese Fehler formen eine Analogie zu unseren kogniti­ven Erinnerungsprozessen — da wir auch konstant unsere Erinnerung verändern. In der neuesten Werkgruppe I’m a liar, but a good one wird das digital erstellte Bild mithilfe eines Roboters auf einen Korpus gemalt und übersetzt. Es entsteht somit der nächste „Translation loss“, da jede Software eine Abwandlung der Erinnerung hinzufügt.

First published in: Exhibition-Catalogue "Expect the Unexpected", Kunstmuseum Bonn, Editors: Michael Reisch, Barbara J. Scheuermann, 2023, ISBN: 978-3-943676-19-8

Images published with friendly permission of Simon Lehner.